Karin de Fries
Schreiberin, Ethnologin, Erwachsenenbildnerin
Veröffentlichung:
de Fries, Karin. Gedichte zwischen Welten - Encuentro. Nimrod Verlag.
2001.
Textprobe
pepica
(prolog)Sichtbar werden
Dichte Form dicht geformt in dich
die Form
der unsichtbaren
Hülle im
Negativ zur
Form
der sichtbar werdenden Gestalt
Gedanken, Bild, Tat, Form
was ich eben nicht tat
ist da drin wo
was ich deshalb tun
immer wieder tun muss wo
hüllt sich unsichtbar
um die Ge- stalt
dicht
Ge
h
CAROLINA
(möglicher Beginn der Geschichte)
Laut und klar knirschte der Schnee unter ihren Schuhen. Langsam ging sie den
Weg entlang. Jeden Schritt belauschte sie geniesserisch, als ob das frische
Knirschen Musik wäre und ihr das Gehen erleichtern würde. Doch plötzlich
blieb sie stehen und blickte zurück. Sie starrte auf ihre Fussspur und
suchte mit klopfendem Herzen nach Linien und Bildern; nach Etwas, das ihren
Schwindel zügeln könnte. Es war nicht das erste Mal, dass auf das
eisige Erstarren Schwindelgefühle ihre Knie weich werden liessen. Sie fixierte
einen Punkt am nahen Horizont und schaffte es, ihren vertrauten Atem zurückzugewinnen.
Der Abdruck im Schnee blieb ihr fremd. Wo waren ihre Spuren? Noch immer zweifelnd
drehte sie sich um und ging weiter, bedacht, den Rhythmus nicht zu verlieren.
In Momenten wie diesen, verwünschte Carolina alles und alle; ausser ihrer
Schwester. Antonia stellte nicht viele Fragen. Für Antonia war eine Weggabelung
ein Moment des Einschätzens und Abwegens, ein Moment der objektiven Entscheidungsfindung.
Als ob ein Gestern nie dagewesen, als ob sogar die Zukunft nur im Dienste der
eigenen Wünsche existieren würde. Bei diesen Gedanken überkam
sie erneut Zweifel: was wusste sie eigentlich von ihrer Schwester?
Carolina wusste, dass ihre Fragen ihre Lebensstützen waren, auch wenn diese
sie immer wieder zum Stolpern gebracht hatten. Carolina trat dieses Jahr ins
36. Lebensjahr, genau die Hälfte der gelebten Jahre ihrer Mutter, würde
sie noch leben.
Ihr Vater kam nach dem zweiten Weltkrieg in die Schweiz, Arbeit suchend. Handwerker
waren gefragt und so blieb er. Die Mutter lernte er in der gleichen Fabrik kennen.
Zusammen bauten sie sich ein neues Zuhause auf. Vater immer besorgt, die Vergangenheit
auf der anderen Seite der Grenze zu lassen, jedes Geräusch, jeder Geruch
und die Bilder. Jetzt war heut und Krieg war gestern. Und als die Töchter
Mädchen wurden, versuchte er in täglicher Anstrengung jedes Anzeichen
aus der Vorzeit zu vertreiben. In der Nachzeit musste ein Neuanfang möglich
sein. Den Mädchen sollten seine Erfahrungen erspart bleiben. Deshalb schwieg
er und brauchte seine ganze Kraft dazu.
Das Knirschen im Schnee war leiser geworden. Gleich würde Carolina am Friedhofstor
stehen und ihre Schwester in die Arme nehmen. Am Todestag ihrer Mutter legten
sie immer zwei Rosen aufs Grab.